Wie (un)ökologisch sind Schweizer Güggeli?

Man kennt die Bilder der „glücklichen Hühner“, die draussen fröhlich Körner picken. Die Wirklichkeit sieht vielfach ganz anders aus.

Tiermast frisst Landschaft

Folgeprobleme des hohen Tierbestandes

Die Werbung lobt die hohe Qualität von Schweizer Geflügelfleisch und seine tierfreundliche Produktion. Dass die Hühner grösstenteils importiertes Futter fressen und mit ihrem Mist zu den hohen Stickstoffemissionen beitragen, ist den Konsumenten kaum bekannt. Zudem beeinträchtigen Masthallen die Landschaft.

Text: Lucienne Rey

Die Schweiz ist weltweit als Exportnation für Uhren, Schokolade und Käse berühmt. Doch sie führt auch weniger vornehme Güter aus. Allein aus dem Kanton St. Gallen wurden im Jahr 2015 gut 600 Tonnen Hühnermist ausser Landes gebracht. «In unserem Kanton sind nur etwa 10 Prozent der Landwirtschaftsfläche offene Ackerfläche. Der Rest entfällt auf Wiesen und Weiden, wo der nährstoffreiche Hühnermist nicht als Dünger eingesetzt werden kann», erklärt Fredy Trefny vom Amt für Umwelt und Energie des Kantons St. Gallen. Die streng riechende Fracht wird per Lastwagen auch mal mehrere hundert Kilometer bis in die östlichen Bundesländer Deutschlands transportiert. Da derzeit in der Ostschweiz etwa alle zwei Monate ein neuer Pouletmastbetrieb entsteht, ist zu erwarten, dass künftig noch mehr Geflügeldung verschoben wird. Diesem Mistexport steht ein zunehmender Futterimport gegenüber. «Die ‹Schweizer› Poulets sind quasi ‹Hors-sol›-Produkte, deren Futter weitgehend auf ausländischem Ackerland produziert wird», betont Hans Ulrich Gujer, Landwirtschaftsexperte beim BAFU. Mittlerweile werde im Ausland für das Futtermittel der hiesigen Tierbestände so viel Fläche Ackerland beansprucht, wie die Schweiz selber aufweise.

Geflügel boomt
Im Unterschied zu den anderen Nutztieren, deren Bestände seit der Jahrtausendwende auf hohem Niveau relativ konstant blieben, nahm das hierzulande gehaltene Federvieh zwischen 2005 und 2015 um 25 Prozent zu. Die entsprechende Fleischproduktion hat sich gemäss Aviforum, dem Kompetenzzentrum der Schweizer Geflügelwirtschaft, in den letzten 20 Jahren gar verdoppelt. Manfred Bötsch, Leiter des Geschäftsbereichs Nachhaltigkeit bei der Migros, bestätigt diese Entwicklung: Poulets sind beliebt, und das Angebot vermag mit der steigenden Nachfrage kaum mitzuhalten. Etwa die Hälfte des Geflügels wird denn auch importiert. «Bei vielen Konsumentinnen und Konsumenten gilt das weisse Fleisch als besonders gesund», erläutert der Fachmann. Überdies sei es «konfessionell neutral ». Entsprechend hätten viele Schulkantinen die herkömmlichen Wienerli durch Brühwürstchen aus Geflügel ersetzt, um Konsumenten entgegenzukommen, die auf den Genuss von Schweinefleisch verzichten.

Den Preis bezahlen die Landschaft und die Umwelt
In der wachsenden Nachfrage nach Geflügel orten Landwirte ein lukratives Ertragsfeld. Die Folge: Zunehmend sind industriell anmutende Gebäude mit grossen versiegelten Verkehrsflächen in der bäuerlichen Kulturlandschaft anzutreffen, die deren Charakter beeinträchtigen und die Zersiedelung fördern. Daniel Arn, der in der Sektion Ländlicher Raum des BAFU für die Landschaftspolitik zuständig ist, stört sich an der grosszügigen Bewilligungspraxis: «Solche Pouletmasthallen gehören von Dimension und Typ her nicht in die offene Landschaft». Das Raumplanungsgesetz (RPG) regelt die Voraussetzungen zur Errichtung neuer Bauten und Anlagen ausserhalb der Bauzonen, der Vollzug obliegt den Kantonen. In der Regel werden Pouletmasthallen mittels der inneren Aufstockung bewilligt, d.h., einem überwiegend bodenabhängig geführten Betrieb werden Bauten und Anlagen für eine bodenunabhängige Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse angegliedert. Im Rahmen einer inneren Aufstockung dürfen die Hühner mit zugekauften Futtermitteln ernährt werden, sofern der gesamte Betrieb über eine ausreichende eigene Futtermittelbasis für all seine Tiere verfügt. Aber auch wenn dies nicht gewährleistet ist, können Bauten und Anlagen, die über eine innere Aufstockung hinausgehen, als zonenkonform bewilligt werden, wenn sie in einem Gebiet erstellt werden, das vom Kanton dafür freigegeben wird (sog. Speziallandwirtschaftszonen).

Die Interessen gewichten
Neben den Pouletmasthallen hinterlassen freilich auch andere neue landwirtschaftliche Zweckbauten wie Grossställe, Reitbetriebe oder Glashäuser unübersehbare Spuren in der Landschaft. Eine Studie belegt, dass der im Kanton Aargau im Jahr 2014 verbuchte Verlust an Fruchtfolgefläche zu 60 Prozent auf den Bau von Ställen, Remisen, Silos usw. zurückzuführen ist. In absolute Werte umgerechnet bedeutet dies, dass wegen der neu errichteten Landwirtschaftsanlagen Kulturland im Umfang von gut 18 Fussballfeldern verbaut wurde. (…)

In grössere Kreisläufe eingebunden
Mit Blick auf die Fleischproduktion ungelöst bleibt das Problem, dass es der Schweiz bei Weitem nicht möglich ist, genügend Futtermittel zu produzieren, um ihren derzeitigen Tierbestand zu ernähren. Noch im Jahr 1996 importierte sie knapp 250‘000 Tonnen Futtergetreide; heute ist es nahezu das Fünffache. Die Kurve zeigt weiter steil nach oben. Ein wichtiger Lieferant von Sojaschrot ist Brasilien, das dem Kraftfutterbedarf der Industrieländer im Norden seine Regenwälder opfert. Die 2012 gegründete Initiative Donau-Soja macht sich für den nachhaltigen Anbau der eiweissreichen Bohne in Europa stark. Micarna (Migros) wie auch Bell (Coop) haben ihre Geflügelproduktion denn auch auf Donau-Soja umgestellt. Doch damit werden letztlich dem Boden der Donau-Länder Nährstoffe entzogen – während sich der hier anfallende Mist oft nicht mehr auf dem eigenen Land verwerten lässt.

Könnte eine Lösung darin bestehen, gleich das Fleisch von dort zu importieren, wo auch das Futter wächst, und damit der Bevölkerung vor Ort erst noch zu neuen Arbeitsplätzen zu verhelfen? Die Migros jedenfalls wirbt in ihrer Kampagne «Generation M» für Geflügel- und Kaninchenfleisch, das nach Schweizer Tierschutzstandards von Partnerbetrieben in Deutschland und Ungarn erzeugt wird. Dass der ganze Produktionsprozess im Ausland gleich eng begleitet werden kann wie in der Schweiz, stellt Manfred Bötsch allerdings in Frage. Tatsache ist: Die Schweiz gehört in Europa zu den Ländern mit den höchsten Ammoniakemissionen pro Hektare Landwirtschaftsfläche. Diese Emissionen führen zu übermässigen Stickstoffeinträgen in naturnahe Ökosysteme. Die Belastungen übersteigen die im Rahmen der Konvention über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung festgelegten kritischen Belastungsgrenzen (Critical Loads) deutlich. Mithin wird der Grundsatz des Umweltschutzgesetzes verletzt, dass Einwirkungen, die schädlich sind, im Sinne der Vorsorge frühzeitig begrenzt werden sollen. Deshalb sind verstärkte Anstrengungen erforderlich, um die Umwelt zu schonen. Sollten die bereits allzu grossen Tierbestände, die am Ursprung der Emissionen stehen,weiter zunehmen,  verschärft sich das Problem. Es sind daher Massnahmen zu ergreifen, welche dieLandwirtschaft wieder zu einer bodenbezogenen, nachhaltigen Fleischprodukt und zu angepassten Tierbeständen führen.

Die neueste Nummer der Zeitschrift UMWELT ist dem Thema „Landwirtschaft und Ernährung“ gewidmet:
http://www.bafu.admin.ch/landwirtschaft/15452/16688/index.html?lang=de

Höchstleistungen der Effizienz
Ein Faktenblatt von Aviforum, dem Kompetenzzentrum der Schweizer Geflügelwirtschaft, geht bei einer Modellberechnung für die Normalmast von knapp 8 Umtrieben aus – so heisst in der Fachsprache die Zeitspanne, die es braucht, um das Eintagsküken auf das Schlachtgewicht von rund 2 Kilo zu bringen. Maximal 38 Tage dauert es, bis dieses erreicht ist. Weitere 8 bis 10 Tage werden für die anschliessende Reinigung der Anlage benötigt. Bei einem Anfangsbestand von 12 000 Tieren und «Abgängen» (d. h. einer Sterberate) von 3,6 % stösst ein solcher Modellbetrieb jährlich knapp 92 000 Poulets aus. Freilich arbeiten etliche der über 900 Schweizer Geflügelmastbetriebe mit kleineren Beständen. Doch insgesamt stellten diese gemäss Proviande, der Branchenorganisation der Schweizer Fleischwirtschaft, in den letzten Jahren an die 60 Millionen Tiere bereit – pro Jahr. Die Geflügelmäster gehen dabei mit Abnehmern langjährige Beziehungen ein; sie vereinbaren gemeinsam die Produktionszahlen, was die Planung der Einkäufer absichert und den Mästern berechenbare Einkünfte garantiert. Gut 75 Prozent des hierzulande produzierten Pouletfleisches wird von Geflügelmästern erzeugt, die mit den beiden Grossen der Branche – der Micarna von Migros und Bell von Coop – Abnahmeverträge abgeschlossen haben.