Kritik am unbegrenzten Wirtschaftswachstum

Dienstag, 3. Mai 2016

Wachstum bedeutet nicht immer Fortschritt. Dies zeigt der deutsche Franziskaner Stefan Federbusch in seinem Artikel, der in der Schweizer Zeitschrift tauzeit erschienen ist.

Die Kehrseite
 des Wirtschaftswachstums

Wir wirtschaften uns zu Tode

Von Br. Stefan Federbusch

Der Begriff Wachstum ist in der Regel positiv besetzt. Das Kind freut sich über jeden Zentimeter, den es gewachsen ist, es möchte endlich «groß sein». Der Jugendliche freut sich über jedes Jahr, das ihn der Volljährigkeit näher bringt. Er möchte endlich «erwachsen sein». Der Erwachsene freut sich über jeden Entwicklungsschritt, der ihn in seiner Persönlichkeitsentfaltung reifen lässt.
Nicht nur auf der persönlichen Ebene, auch auf der ökonomischen Ebene ist Wachstum das Zauberwort schlechthin. Steigende Quartalszahlen der Unternehmen lassen nicht nur Börsianer jubeln. Wachstum scheint das Allheilmittel wirtschaftlichen Handelns. Wachstum garantiert Arbeitsplätze, Wachstum steht für Wohlstand. Wachstum wird daher als alternativlos dargestellt. Es ist Teil der TINA-Strategie: There is no Alternative (dt. Es gibt keine Alternative).
Die Kehrseite des Wachstums wird gerne verdrängt: Wachstum bedeutet einen erhöhten Ressourcenverbrauch und bringt somit massive ökologische Folgenschäden mit sich. Würden alle Menschen dieses Planeten so leben wie die Menschen in Deutschland und der Schweiz, bräuchten wir 1,5 Erden. Umgerechnet auf ein Jahr, haben wir bereits im August die Ressourcen aufgebraucht, die uns im Sinne der Nachhaltigkeit für das komplette Jahr zur Verfügung stehen. Wir leben weit über unsere planetarischen Verhältnisse! Der Klimawandel führt uns drastisch vor Augen, wie wir unser gemeinsames Haus Erde durch permanente wirtschaftliche Wachstumsprozesse zerstören. Da Wachstum zudem ungleich verteilt ist, gehen Gewinne des einen auf Kosten des anderen. Die seit den 1980er Jahren verfolgten neoliberalen Wachstumsstrategien haben eine zunehmende globale Ungleichheit bewirkt. Zudem führt Überkonsum nicht zwangsläufig zu einem gesteigerten Wohlbefinden. Im Gegenteil geht Wirtschaftswachstum mit einer Erhöhung der Arbeitsgeschwindigkeit und damit des Stresslevels einher. Die physischen (Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Herzattacken) und psychischen (Depressionen, Burnout) gesundheitlichen Folgen verringern die Lebenszufriedenheit.
Unsere ökologische Schuld
In seiner Enzyklika «Laudato si» (Juni 2015) verbindet Papst Franziskus die ökologische Frage mit der sozialen Frage. Die Bewahrung der Schöpfung muss einhergehen mit dem Einsatz für soziale Gerechtigkeit. Sowohl die Natur als auch die Menschen, insbesondere die Marginalisierten (an den Rand Gedrängten), müssen zu ihrem Recht kommen. Dies kann nur durch die Veränderung des derzeitigen Wirtschaftssystems gelingen, das der Papst als «unhaltbar» bezeichnet. Er spricht von einem strukturell perversen System von kommerziellen Beziehungen und Eigentumsverhältnissen. Die Politik habe sich der Technologie und dem Finanzwesen unterworfen und der Vergötterung des Marktes. «Das technokratische Paradigma beinhaltet die Idee eines unendlichen und grenzenlosen Wachstums… Dieses Wachstum setzt aber die Lüge bezüglich der unbegrenzten Verfügbarkeit der Güter des Planeten voraus, die dazu führt, ihn bis zur Grenze und darüber hinaus ‹auszupressen›» [LS 106]. Die Industrieländer des Nordens tragen eine «ökologische Schuld … im Zusammenhang mit Ungleichgewichten im Handel und deren Konsequenzen im ökologischen Bereich wie auch mit dem im Laufe der Geschichte von einigen Ländern praktizierten unproportionierten Verbrauch der natürlichen Ressourcen» [LS 51].
Begriff Fortschritt neu definieren
Die Politik müsse den Primat über die Wirtschaft zurückgewinnen und gemeinsam haben sich beide in den Dienst des Lebens zu stellen. Dazu gehört für Papst Franziskus, Abschied zu nehmen von der magischen Auffassung des Marktes, die zu der Vorstellung neige, dass sich die Probleme allein mit dem Anstieg der Gewinne der Betriebe oder der Einzelpersonen lösen. Angesichts des «unersättlichen und unverantwortlichen Wachstums, das jahrzehntelang stattgefunden hat», bedürfe es in einigen Teilen der Welt einer gewissen Rezession [Wachstumsrücknahme], damit in anderen Teilen ein gesunder Aufschwung stattfinden könne. Da das Prinzip der Gewinnmaximierung eine Verzerrung des Wirtschaftsbegriffs darstelle, brauche es eine Neudefinition des Fortschritts jenseits von Markt und planwirtschaftlich geführtem Staat, es brauche einen neuen, ganzheitlichen Ansatz, der in einem interdisziplinären Dialog gefunden werde. Papst Franziskus fordert daher zu einer mutigen kulturellen Revolution auf, zur Befreiung von diesem Modell einer Wirtschaft, die tötet.
Die Umweltkrise ist für den Papst ein Zeichen des Reduktionismus, der die Welt lediglich als Produkt der Ausbeutung betrachtet. Die Natur diene als Mittel zum Zweck lediglich der eigenen Befriedigung. Wenn es wirklich gelingen soll, die perversen (System-)Logiken kritisch infrage zu stellen, die der gegenwärtigen Kultur zugrunde liegen, dann müsse der «zwanghafte Konsumismus» als subjektives Spiegelbild des techno-ökonomischen Paradigmas überwunden werden. «Während das Herz des Menschen immer leerer wird, braucht er immer nötiger Dinge, die er kaufen, besitzen und konsumieren kann.» [204]. Papst Franziskus wünscht sich einen «prophetischen und kontemplativen Lebensstil, der fähig ist, sich zutiefst zu freuen, ohne auf Konsum versessen zu sein». Es handelt sich um die Überzeugung, dass «weniger mehr ist» [222], denn «Genügsamkeit, die unbefangen und bewusst gelebt wird, ist befreiend» [203]. Hier wird die Systemfrage zur persönlichen Anfrage an mich: Was ist für mich persönlich ein «gutes» Leben? Kann ich mir vorstellen, dass weniger Konsum mehr Lebensqualität bedeutet? Bin ich bereit, dies einmal praktisch auszuprobieren, um zu testen, ob ein solcher Lebensstil tatsächlich befreiend wirkt?
Kooperation statt Konkurrenz
Mittlerweile zeigen sich erste zarte Pflänzchen des Umdenkens. Einer Umfrage von 2012 zufolge sind 80 Prozent der deutschen Bevölkerung mit dem derzeitigen Wirtschaftssystem unzufrieden und wünschen sich ein anderes. Zwei Drittel der Befragten glauben nicht, dass der Kapitalismus für einen «sozialen Ausgleich in der Gesellschaft», den «Schutz der Umwelt» oder einen «sorgfältigen Umgang mit den Ressourcen» sorge. Ebenso viele bezweifeln, dass Wirtschaftswachstum die eigene Lebensqualität erhöhe. Eine nachkapitalistische Wirtschaftsordnung wird sich vom Wachstumsparadigma verabschieden. In Leipzig (2014), Montreal (2012), Barcelona (2010) und Paris (2008) fanden sogenannte Degrowth-Konferenzen statt. Die Teilnehmenden beschäftigten sich mit der Struktur einer Wirtschaft, die unabhängig von Wirtschaftswachstum ein gutes Leben für alle ermöglicht. Ein alternatives Modell wird auf anderen (Lebens-)Werten beruhen und auf Qualität statt Quantität. Es wird weniger individualistisch, hedonistisch und materialistisch geprägt sein, sondern stärker gemeinschaftlich, gemeinwohl- und sinnorientiert sein. In diese Richtung weisen Modelle wie die Gemeinwohlökonomie (Christian Felber), die an Stelle von Konkurrenz auf Kooperation setzt und die Wirtschaft durch einen Gemeinwohlindex misst, der im Gegensatz zum Bruttoinlandprodukt neben den rein monetären auch ökologische, soziale und gemeinwohlorientierte Kennzahlen berücksichtigt.
Gesundes menschliches Wachstum setzt eine intakte ökologische Mitwelt und stabile soziale Bezüge voraus. Die komplexe sozio-ökologische Krise unserer Zeit verlangt daher ein neues Verständnis der Verbundenheit von allem, wie sie der hl. Franziskus empfunden und gelebt hat. Eine ganzheitliche Ökologie erkennt den Eigenwert des Geschaffenen an und gebraucht die Dinge nicht gegen ihre Ordnung. Wir sind «Hüter», nicht «Herren» der Schöpfung! Eine neoliberale Wirtschaftsordnung setzt auf immer größere Einheiten (Großkonzerne), eine gemeinwohlorientierte dagegen auf regionale kleinere Einheiten. Dies drückt sich aus in kooperativen Formen des Miteinander-Teilens wie Carsharing (Autoteilen) oder Foodsharing (Nahrung teilen). Beim «Gardening» wird auch in Großstädten gemeinsam mit anderen ein kleines Stück Land bearbeitet und auf diese Weise Selbstversorgung betrieben. Sogenannte «Commons», also Gemeingüter wie beispielsweise Wasser, die aus vermeintlichem Gewinnstreben privatisiert wurden, gehen wieder in den Besitz der Kommunen zurück. Bürger bilden Genossenschaften zur lokalen Energieerzeugung. Regionalwährungen sind Ausdruck alternativer Wirtschaftskreisläufe, ethische Geldanlagen Ausdruck eines bewussteren Umgangs mit Geld. Der Einkauf erfolgt nach den Kriterien fair, bio und regional.
Von TINA zu TATA
Franz von Assisi hat an seinem Vater als Kaufmann erlebt, wohin «kapitalistisches» Denken führt, wie ein Streben nach «immer mehr» den Menschen in Beschlag nimmt und korrumpiert. Er hat darunter gelitten, wie ihn das rasante Wachstum seiner Bruderschaft überfordert hat. Franziskus und seine Brüder sind mit ihrer radikalen Armut absoluter Besitzlosigkeit das Gegenbild zu Ausbeutung und egoistischem Besitzstreben. Die franziskanische Spiritualität ist in diesem Sinne «antikapitalistisch», indem sie auf gemeinschaftliche Werte von Solidarität und miteinander Teilen sowie einen nachhaltigen Lebensstil setzt. Diese Radikalität haben selbst die Schwestern und Brüder der Franziskanischen Familie (am ehesten noch die Klarissen) nicht durchgehalten. Ganz auf Geld zu verzichten als urfranziskanische Option – wie es einige Mutige praktizieren –, scheint heute selbst für Ordenschristen utopisch. Die Grundoption eines einfachen Lebensstil kann aber sehr wohl Modell sein für eine Wirtschaftsweise, die statt auf das Wachstum des Ego und der Güter auf das Wachstum des Selbst und der Nachhaltigkeit setzt.
Ich als Einzelne oder Einzelner werde die Welt kaum verändern. Aber gemeinsam in suchenden und tastenden Schritten, im mutigen Experimentieren und nachhaltigem Ausprobieren, im solidarischen Handeln und gerechten Teilen können Alternativszenarien Wirklichkeit werden! Wir brauchen die Kraft transformativer Visionen, die die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten gesellschaftlicher Verhältnisse kritisch in Frage stellen. Eine andere Welt ist möglich. Es gibt Alternativen! Lassen wir TINA zu TATA werden: There are thousands of Alternatives. Es gibt tausende Alternativen!
«Lass uns in deinem Namen, Herr, die nötigen Schritte tun. Gib uns den Mut, voll Glauben, Herr, heute und morgen zu handeln. Gib uns den Mut, voll Hoffnung, Herr, heute von vorn zu beginnen» (Kurt Rommel).

Zum Autor
Br. Stefan Federbusch ofm leitet das Exerzitienhaus – Franziskanisches Zentrum für Stille und Begegnung in Hofheim (bei Frankfurt). Er ist Mitglied des Vorstands der Interfranziskanischen Arbeitsgemeinschaft (INFAG) und der Provinzkommission für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.

Zur Vertiefung des Themas:
Stefan Federbusch, Nachhaltig wirtschaften – gerecht teilen, Reihe Franziskanische Akzente Band 8, 112 S., Echter-Verlag, Würzburg 2015, ISBN 978-3-429-03782-6, 9.90 Euro (ca. Fr. 14.80).

Zitate:
Hier wird die Systemfrage zur persönlichen Anfrage an mich: Was ist für mich persönlich ein «gutes» Leben? Kann ich mir vorstellen, dass weniger Konsum mehr Lebensqualität bedeutet? Bin ich bereit, dies einmal praktisch auszuprobieren, um zu testen, ob ein solcher Lebensstil tatsächlich befreiend wirkt?

Die Grundoption eines einfachen Lebensstils kann Modell sein für eine Wirtschaftsweise, die statt auf das Wachstum des Ego und der Güter auf das Wachstum des Selbst und der Nachhaltigkeit setzt.

Wir brauchen die Kraft transformativer Visionen, die die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten gesellschaftlicher Verhältnisse kritisch in Frage stellen. Eine andere Welt ist möglich.