Maulkorb für kirchliche Hilfswerke?

Freitag, 8. Januar 2021

In einem offenen Brief  appelliert die Basisgruppen-Bewegung Schweiz an Bundesrat Ignazio Cassis, die verschärften Bestimmungen bei der Vergabe von Bundesgeldern an Hilfswerke zu überdenken.


Im Nachgang zur Abstimmung über die Konzernverantwortungs-Initiative im November hat Aussenminister Cassis angekündigt, die Vergabepraxis der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA an die Hilfswerke (wie z.B. Fastenopfer und Brot für alle) zu verschärfen und ihnen keine Projektgelder mehr für die Informations- und Bildungsarbeit im Inland zu gewähren. Die kirchlichen Basisgruppen «protestieren dagegen, dass zwar die Folgen des Unrechts gelindert werden dürfen, aber seine Ursachen und Verantwortlichen verschwiegen werden müssen.» Und sie fragen: «Wie können wir die konkreten Lebensbedingungen von Abermillionen von Armgemachten dieser Welt vor Augen haben, ohne gleichzeitig die politischen Rahmenbedingungen in den Blick zu nehmen, die diese mitverursachen?»
Mit seinem Vorhaben wirft Bundesrat Cassis einen jahrzehntelangen Konsens leichtfertig über Bord. Wir erinnern uns: Vor genau 50 Jahren, im November 1970, geschah Aufsehen erregendes im Bundeshaus. Unter dem Patronat von (Alt-)Bundesräten luden die Schweizer Bischofskonferenz, der Schweizerische Evangelische Kirchenbund und die Christkatholische Kirche gemeinsam zur «Interkonfessionellen Konferenz Schweiz-Dritte Welt» in den Nationalratssaal ein. Unter der Themenführerschaft der Kirche diskutierten Kirchenvertreter, Politiker, Fachleute und eine Delegation der Jugend erstmals breit über das Verhältnis der Schweiz zu den sogenannten Entwicklungsländern und ihrer Verantwortung zur künftigen Gestaltung der Zusammenarbeit zum Wohl der einen Menschheitsfamilie. Die Konferenz setzte Meilensteine für die Zukunft.
Fünf wegweisende Dokumente wurden überraschend einmütig verabschiedet. Wir zitieren selbstredend den Anfang und den Schluss des Dokuments zu «Information und Bewusstseinsbildung»:

  1. Wir erfüllen unsere Verpflichtung gegenüber der Dritten Welt nur dann, wenn wir die Welt in ihrer Vielgestalt und der gegenseitigen Abhängigkeit ihrer Teile begreifen (…)
  2. Entwicklungspolitik soll nicht nur Aufgabe unserer Regierung und unserer Kirchenleitungen sein, sondern sie soll eine bewusste Solidarität zwischen den Völkern anstreben, unser soziales und politisches Verantwortungsbewusstsein vertiefen und erweitern und die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen, die die Entwicklung in unserem Land und zwischen den Ländern verhindern, stets neu in Frage stellen.
  3. Dies setzt eine Informations- und Bildungsarbeit voraus, welche die Weckung des globalen Verantwortungsbewusstseins zum Ziel hat. Dieser langfristigen Aufgabe müssen sich Staat, Kirchen und Massenmedien verpflichtet wissen (…)
  4. Es gehört zu den Aufgaben der Informationspolitik der Kirchen, auf Staat und Wirtschaft ihren Einfluss auszuüben.
  5. Die kirchlichen Hilfswerke sollen ihre Information nicht primär auf höchst mögliche Sammelergebnisse ausrichten, sondern sie haben auch eine gesellschaftskritische Aufgabe zu erfüllen (…)
  6. Die Kirchen sollen 20 bis 25% der Gelder, die für Entwicklungshilfe zur Verfügung stehen, für Information und Bewusstseinsbildung in den Industrieländern einsetzen.

Damals haben die Kirchen also erkannt, dass sie Teil einer weltweiten Gemeinschaft sind, zu deren gemeinsamen Wohl sie Entscheidendes beizutragen haben. Und der damalige Bundesrat bezeugte mit seiner Gastfreundschaft die Bereitschaft, auf die Kirchen zu hören. Es wäre ein höchst trauriges Zeugnis, wenn der zuständige Bundesrat heute nichts mehr davon wissen will.

Link zum offenen Brief der kirchlichen Basisgruppen