Wenn Flüchtlinge zu uns kommen

Montag, 25. Mai 2015

Die Baldegger Schwestern geben in Amden SG ihr Erholungsheim Bergruh auf. Dort wird der Kanton ein Zentrum für Asylsuchende einrichten. Die Bevölkerung probt den Aufstand. Und der reformierte Pfarrer Jörn Schlede zeigt in einer Predigt, was christliches Verhalten gegenüber Fremden sein könnte.

Predigt an Auffahrt 2015 in  der Bergkirche zu Amden

Liebe Auffahrtsgemeinde,

„Heile Welt, ade.“ dachte die eingeschworne Gemeinschaft. Es hätte alles so schön sein können! Da fühlten sie sich wie im Paradies auf Erden, hatten sich alles so schön erträumt. Plötzlich brach alles zusammen. Nun schon zum zweiten Mal diese Katastrophe! Viele von ihnen sind am Boden zerstört. Fühlen sich verschaukelt. Verstehen die Welt nicht mehr, malen sich die schlimmsten Horroszenarien aus. Haben Angst vor der Zukunft. Viele andere stehen nur da und schütteln einfach nur den Kopf über so viel Unverstand.
Die Rede ist von der Auffahrt Jesu. Was haben Sie denn gedacht?
Die Freunde von Jesus müssen an Himmelfahrt vollkommen verwirrt gewesen sein: Rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Erst ist Jesus da, predigt, heilt, begeistert die Massen, dann schubst er vor dem Tempel die Tische der Händler und Geldwechsler um und zieht somit den Zorn derer auf sich, denen er das Geschäft verdirbt. Dafür endet er am Kreuz. Ende. Aus. Totale Verzweiflung. Dann kommen immer mehr zusammen, die bei ihrem Leben beschwören, Jesus ist ihnen erschienen. Er ist nicht tot. Er ist auferstanden! Nicht nur die Bibel, auch ausserbiblische Quellen belegen solche Erscheinungsberichte. Aus diesen Auferstehungsbegegnungen ist dann die Gemeinschaft der Christen entstanden. Schon war man von dem Gefühl beseelt, Gottes Reich, seine neue Welt, eine heile Welt bricht jetzt an, wird alles verändern. Da hatten wirklich einige die Vorstellung, Gott kommt jetzt gleichsame wie die Römische Armee und Jesus als oberster Heerführer und kämpft jetzt für Gottes neue Welt.
Da entschwindet Jesus. Schon wieder ist er weg. „Aufgefahren in den Himmel.“ Das hatten sich die ersten Christen etwas anders vorgestellt. Wenige Tage nach der Kreuzigung nun erneut Ratlosigkeit. Die Himmelfahrt passte vielen nicht ins Konzept. Wie das historisch war, ist eigentlich Nebensache. Dahinter steckt eine gewisse göttliche Pädagogik: Einmal natürlich machten die Himmelfahrten im Judentum wie auch in anderen Religionen immer deutlich: Hier handelt es sich um einen von Gott oder den Göttern besonders erwählten Menschen. Mose ist in den Himmel aufgefahren, Elia, Henoch, Methusalem, ägyptische Pharaonen, römische Kaiser. Und natürlich später auch Mohammed. Da konnte Jesus nicht nachstehen.
Aber mehr noch: Die ersten Christen bekamen schnell ein Problem: Plötzlich kamen viele, die meinten, Jesus sei ihnen erschienen und habe ihnen dies oder jenes gesagt. Wie sollte man nun unterscheiden, wem Jesus wirklich erschienen ist und wer dies einfach nur behauptete, um sich wichtig zu machen? Der bekannteste Streit ist der zwischen Petrus und Paulus, zwischen dem ehemaligen Jünger von Jesus und dem Verfolger der ersten Christen. Dass Paulus Jesus begegnet sein soll, war für Petrus höchst zweifelhaft. Manche haben auch dummes Zeug im Namen Jesu erzählt. Also machte Himmelfahrt erst einmal deutlich: Jesus ist von Gott besonders erwählt, aber er ist Euch entzogen! Gott ist nicht frei verfügbar, dass jeder behaupten könne, Jesus sei ihm oder ihr erschienen. Ich kann nicht Gott so drehen, wie es mir passt.
Gott funktioniert leider nicht so wie ich es gerne hätte! Er ist keine Armbanduhr, die berechenbar und verlässlich vor sich hin tickt. Gott tickt anders!
Christen glauben nicht an einen lieben Gott im Himmel! Zumindest lässt sich Gott nicht in den Himmel verbannen. Immer wenn Gott unbequem wird und unser Handeln in Frage stellt, hätten es ja manche gern, dass Kirche mal lieber vom lieben Gott im Himmel redet und sich aus den irdischen Dingen heraushält. Eine Kirche, die sich aufs Abstellgleis führen lässt, muss sich nicht wundern, wenn keiner mehr zusteigt.
Auffahrt macht eine Doppelbewegung deutlich: Die biblische Auffahrtserzählung erzählt nicht nur das Gehen Jesu sondern kündigt zugleich das Kommen des Heiligen Geistes an. Also: Gott im Himmel und auf Erden! Der Heilige Geist verbindet den Himmel mit der Erde, er verbindet Gott mit uns, legt den göttlichen Funken in uns.
„Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen und ihr werdet meine Zeugen sein.“ heisst es in der Auffahrtsgeschichte. Will sagen: Gott bleibt nahe, viel mehr noch: Gott bleibt in dir! In dir brennt das göttliche Feuer! Brennt da was in dir? Oder glimmt es nur so vor sich hin unter viel Asche?
Es geht nicht nur darum, hübsch fromm den Namen Jesu täglich zu nennen. Es geht darum, das eigene Handeln und das Handeln in dieser Welt am Handeln Jesu zu messen, an Gottes Auftrag und auf dieser Hintergrund zu deuten. Ob etwas im Namen des Heiligen Geistes geschieht oder ob höchst unheilige Dinge geschehen, hat die Kirche Jesu wie ein Seismograph anzuzeigen und unheilige Geister deutlich kenntlich zu machen. Das gelingt nicht immer. Aber es bleibt dennoch unsere Aufgabe.
Kurzer Szenenwechsel: Heile Welt ade, Teil 2: Als im Jahre 1693 Schweizer Auswanderer aus der Region Bern und St. Gallen zu Hauf in das Berliner Umland einwanderten waren die Brandenburger ob jener fremden Bergbauern skeptisch: sie sprachen anders, sie feierten die Gottesdienste anders. Bald gingen wüste Gerüchte um: sie stehlen,… Und die historische Tatsache, dass der Preussenkönig sie 4 Jahre von der Steuer befreite, brachte natürlich Unmut: Dieses faule Schweizer Pack kommt einfach in unser schönes Brandenburg, bekommt Land geschenkt während die anderen sich alles hart erarbeitet haben.
3 Generationen später hatten die Brandenburger Kinder längst die Schweizer Mädchen und Buben geheiratet und man lebte friedlich beisammen. Die Schweizer hatten sogar die Gottesdienste und das Gemeindeleben verändert. Die Handwerker hatten eine wunderbare schlichte Riegelkirche gebaut.
1945 kamen die Flüchtlinge aus Schlesien und dem Sudentenland nach Deutschland und auch in die Schweiz. In den Sechziger Jahren kamen die Türken, in den Achtziger Jahren die Russlanddeutschen, in den Neunziger Jahren die Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien und die ganzen Ostdeutschen. So jedenfalls in Deutschland. In der Schweiz kamen noch Tamilen und Tibeter dazu. Und eine Unmenge Deutsche! Übrigens: 80.000 Schweizer wohnen heute in Deutschland. Markant viele heissen in Süddeutschland übrigens Thoma. Ob da der eine oder andere Wirtschaftsflüchtling aus Amden dabei ist, der das einstige Armenhaus Europas, also die Schweiz, verlassen hat um in der Ferne sein Glück zu suchen? Am Ende haben diese Asylanten aus Amden den Württembergern den Wohlstand gebracht? (Und sie sind dafür verantwortlich, dass die Württemberger bis heute kein hochdeutsch sprechen?) 800’000 Schweizer wohnen heute ausserhalb der 26 Kantone und bereichern die Welt und erleben diese als bereichernd.
Heile Welt, ade, Teil 3: Die heile Welt hat es nie gegeben, auch wenn Amden freilich nahe dran zu sein scheint. Die Insel der glückseligen Schweizer gab ebenso wenig wie die des ausländerfreien Deutschlands. Auch wenn manche das gerne so sehen würden und kleine Dörfer in Deutschland wie die Ammler gegen all die Ausländer und Asylanten protestieren. Die Ammler sind also allenfalls genauso verrückt wie andere Orte auch. Den Ammlern das vorzuwerfen, was die Europäische Union mit den Flüchtlingen nur etwas verschwurbelter und versteckter macht, macht also keinen Sinn.
Ich kann diejenigen verstehen, die Sorge haben vor über hundert Menschen mit anderen Kulturen und anderen Lebensgewohnheiten. Natürlich wird es Konflikte und Missverständnisse geben. Alles andere zu behaupten, wäre Augenwischerei! Nicht wenige Ammler fühlen sich mit den Plänen für die Bergruh überfordert. Die Frage ist, wie wir das Gefühl der Über-Forderung nun eine Gefühl der lohnenswerten Heraus-Forderung verwandeln.
Wenn Befürworter und Gegner der Asylunterkunft sich gegenseitig das Leben schwer machen und gehässig aufeinander sind, kann Amden nur verlieren. Nämlich zuerst seinen guten Ruf, der jetzt nur eine dicke Beule hat. Oder viele schmutzige Betttücher.  Nächstenliebe finden alle gut, wenn der Nächste ein dickes Portemonnaie hat, gut aussieht und mich nichts kostet, sondern mir was bringt. Oder wenn ich nicht den barmherziger Samariter spielen muss, sondern der Kanton, der Bund oder die Italiener. Auch wenn es schwer fällt: diejenigen Ammler, die Angst vor den Asylbewerbern haben, brauchen unser Verständnis und wir müssen alles tun, ihnen diese Angst zu nehmen!
Kein Verständnis jedoch darf es geben für Diskriminierung und Vorverurteilung! Alle Asylbewerber schon von vornherein als kriminell abzustempeln hat die Feinfühligkeit eines Vorschlaghammers und macht so viel Sinn wie alle Schweizer als Rosinenpicker und Hinterwäldler zu bezeichnen. Ebensowenig steht es den Nicht-Ammlern zu, zu sagen: Typisch Ammler.
Kein Verständnis braucht es für jene, die die Schwestern der Bergruh kritisieren oder beschimpfen, weil sie eben nicht nur beten, was keinen stört, sondern auch handeln, so wie Gott es Christen aufgetragen hat.
Mag sein, dass 120 Asylbewerber auf 1400 Einwohner ganz schön happig sind. Immerhin hat das kleine Amden schon fast 300 Reformierte zu verkraften…   Aber mittlerweile haben viele Ammler das Gefühl, dass die Reformierten so schlimm auch nicht sind und hübsche Töchter haben. Warum sollte man nicht in zehn Jahren sagen: Damals in 2015 fürchteten sich die Ammler vor Asylbewerbern und siehe da, es kamen – Menschen?
An der Himmelfahrt Jesu waren alle verstört, irritiert, verzweifelt, fühlten sich nun schon wieder von Gott verlassen. Aber auf Auffahrt folgte Pfingsten, eine neue belebende Energie, die aus einem verzweifelten Haufen eine begeisterte hoffnungsfrohe Gemeinschaft machte, die Fremde mit hineinnahm und nicht verteufelte. Dieser Geist möge nun auch einmal mehr über Amden kommen, damit wir gemeinsam dafür sorgen, dass wir denen, denen die heile Welt zerbombt wurde oder die nie eine heile Welt kannten nun hier Schutz und Zuflucht gewähren, so wie es Gottes Auftrag an uns ist. Nicht nur ein Auftrag an den Kanton oder an die Nachbarn der Bergruh, sondern an alle! Ich hoffe sehr, dass im Januar wieder Amden mit Betttüchern geschmückt ist: Darauf stehen Willkommensgrüsse für alle Fremden – ohne Rechtschreibfehler. Am(d)en.